Legal Engineering für Vertriebssysteme: Scheinselbständigkeit vs. Unternehmertum

 

Das Thema Scheinselbständigkeit ist nicht nur bei UBER ein Dauerthema (vgl. BGer 9C_70/2022 sowie BGer 9C_76/2022, siehe Link). Auch in Vertriebssystemen mit selbständigen Partnern, namentlich im Franchising und in Agentursystemen, ist der Spagat zwischen unternehmerischem Spielraum und Systemintegration ein Dauerbrenner. Auch wenn sich ein Franchisenehmer oder eine Agentin einem System anschliesst und damit gewisse Systemvorgaben freiwillig übernimmt, er oder sie bleibt selbständiger Unternehmer*in. Doch was heisst dies aktuelle Rechtsprechung und Entwicklung in diesem Bereich eigentlich für Vertriebssysteme mit selbständigen Partnern?

Dieser Blog-Beitrag befasst sich in zusammenfassender Art und Weise mit dem Thema Scheinselbständigkeit und zeigt auf, auf was Systeme mit selbständigen Partnern – ob Franchising oder Agency – achten sollten, um sich nicht dem Risiko auszusetzen, plötzlich Sozialversicherungsbeiträge, Ferien- und Überstundenentschädigungen oder Lohnforderungen bezahlen zu müssen.

Nicht selten kommt es vor, dass Franchisenehmer oder Agenten bei unliebsamer Trennung von einem System plötzlich behaupten, sie seien eigentlich unselbständig gewesen und hätten daher Anspruch auf Ferienentschädigung, Überstundenentschädigung, Lohnnachzahlungen sowie auf Tragung der Sozialversicherungsbeiträge durch den Systemgeber.

Leider wird dabei oftmals verkannt, dass es einem System - wie jenem im Franchising - immanent ist, dass der Systemgeber Vorgaben macht, um sein System, dessen Einheitlichkeit, Qualität und sein Know-how zu schützen. Doch welche Kriterien sind schlussendlich ausschlaggebend? Wie so oft, kommt es auf den Einzelfall an und eine Behörde oder ein Gericht schaut den einzelnen Fall konkret an.

Grundsätzlich gilt eine Person dann als unselbständig, wenn sie in betriebswirtschaftlicher bzw. arbeitsorganisatorischer Abhängigkeit vom System-/Arbeitgeber steht und kein Unternehmerrisiko trägt.

In der Regel werden von Behörden und Gerichte folgende Kriterien zur Beurteilung einer Selbständigkeit herangezogen:

  • Personalhoheit: Haben die Vertriebspartner eigenes Personal? Wenn ja, können sie dieses Personal selbständig rekrutieren, führen und deren Lohn festsetzen?
  • Sortimentswahl: Haben die Vertriebspartner gewisse Freiheiten im Zusammenhang mit dem Sortiment? Können sie bspw. ein regionales Sortiment führen?
  • Investitionen/Geschäftskosten: Tragen die Vertriebspartner auch tatsächlich ein finanzielles Unternehmerrisiko und tragen ihre Geschäftskosten selbst?
  • Arbeitszeit: Sind die Vertriebspartner in der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten frei?
  • Eigene Arbeitsorganisation: Verfügen die Vertriebspartner über eine eigene Arbeitsorganisation?

Selbstverständlich können je nach Konstellation noch weitere Kriterien massgebend sein. Zu beachten ist, dass für Franchisenehmer und Agenten grundsätzlich zwar die gleichen Kriterien gelten, es aber dennoch Unterschiede gibt. Gemäss Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen gelten Agenten, welche als natürliche Personen Vertragspartner sind, aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht grundsätzlich als unselbständig. Zwar ist das Zivilgericht nicht an den sozialversicherungsrechtlichen Status gebunden, in der Praxis ist es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass eine Sozialversicherungsbehörde den Status des Vertriebspartners als unselbständig erwerbend einordnet, ein Zivilgericht als selbständig.

Die Frage nach der Scheinselbständigkeit stellt sich vor allem dann, wenn natürliche Personen die Vertragspartei in einem Vertriebssystem sind. Doch auch bei einer 1-Mann/1-Frau GmbH kann sich die Frage nach der Selbständigkeit stellen, praxisgemäss jedoch viel weniger. Das Risiko, dass der Vertriebspartner als unselbständig eingestuft wird, kann somit bereits dadurch minimiert werden, dass von den Partnern verlangt wird, eine juristische Person für die Ausübung der Tätigkeit zu wählen (und damit bereits Investitionen zu tätigen).

Sollte es aus anderen strategischen Überlegungen doch die natürliche Person sein, so empfiehlt es sich, als Systemgeberin eine Art «Ruling» bei der Sozialversicherungsbehörde am Hauptsitz der Systemzentrale einzuholen. In einem solchen Ruling wird der Behörde das Vertriebssystem erklärt. Es empfiehlt sich sodann, den jeweiligen Vertrag beizulegen und die Gründe für gewisse Systemvorgaben (bspw. Systemeinheitlichkeit, Qualitätssicherung, Know-how-Schutz, etc.) ausführlich darzulegen. In der Regel haben die Behörden ein Verständnis für Franchising und Co. und heissen ein solches Ruling gut.

In der Praxis beobachten wir, dass das Thema Scheinselbständigkeit vor allem dann präsent wird, wenn sich die Systemgeberin und der Vertriebspartner unliebsam trennen. In der Regel geht der Anstoss dann vom Vertriebspartner aus, welcher entweder eine Anzeige bei der Sozialversicherungsbehörde einreicht oder direkt auf dem zivilrechtlichen Weg Ansprüche aus einer angeblichen unselbständigen Tätigkeit (Arbeitsvertrag) geltend macht.

Es gilt jedoch die Besonderheiten von Systemen mit selbständigen Partnern – namentlich Franchising – zu berücksichtigen. Es ist nun mal das Charakteristika eines Franchisesystems, dass der Systemgeber verbindliche Vorgaben betreffend System und Systemführung macht. Der Franchisenehmer profitiert ja dadurch auch.

Aus Sicht des Systemgebers lohnt es sich dennoch, das eigene System immer wieder kritisch zu hinterfragen und den unternehmerischen Spielraum der Vertriebspartner hoch zu halten.

Als Verband für Systemgeber im Bereich Franchising, Agentur- oder Lizenzsystemen ist es uns wichtig, dass unsere Mitglieder ihren Systempartnern den unternehmerischen Spielraum lassen und darin auch die Chance sehen, erfolgreich zu sein. Systemgeber, die lediglich Risiken auslagern wollen, ihre Partner jedoch wie Arbeitnehmer führen, sind i.d.R. zum Scheitern verurteilt.

 

Melanie Käser ist Mitglied der Geschäftsleitung von Swiss Distribution, und Partnerin bei Streichenberg Rechtsanwälte.

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